Es ist der siebte August und zehn Minuten vor Mitternacht. Wir liegen uns in den Armen und haben es wirklich geschafft, wir stehen auf dem Gipfelplateau des 2060 Meter hohen Grundtvigskirken. Der Horizont schimmert blutorange, die Sonne im Dämmerzustand zwischen Untergang und Aufgang. Das Meer unter uns dunkel, bleiern und gespickt mit Eisbergen die von hier oben wie Sahnehäubchen erscheinen.
Zum Hintergrund: Der Grundtvigskirken ist ein Berg, der wie eine Haifischflosse aus dem Scoresbysund emporwächst. Der Scoresbysund ist der längste Fjord der Welt und befindet sich an der Ostküste Grönlands. Ziel der diesjährigen Expedition war es das zu Ende zu bringen was wir – Stefan Glowacz und ich, Philipp Hans – 2018 angefangen haben, nämlich dem Grundtvigskirken eine neue Erstbegehung zu bescheren. Mit einem leicht veränderten Expeditionsteam traten Stefan und ich Anfang Juli unsere Reise Richtung Grönland an. Wieder mit dem Schiff, wieder mit einem großen logistischen Aufwand, dieses Mal aber ohne Durchquerung direkt an den Berg. Spannend wurde es trotzdem. Aber lest selbst!
Die „Seemänner“ und ihre Santa Maria
Am siebten Juli 2018 starten wir. Wir, das sind Stefan Glowacz (54), Christian „Schlesi“ Schlesinger (52), Markus „Dorf“ Dorfleitner (48), Fotograf Moritz Attenberger (41), Skipper Wolf Kloss (62) mit seinem Sohn Daniel (23) und ich, Philipp Hans (26). Die erste Etappe führte uns mit dem Zug von Starnberg bis hoch nach Schottland. Vier Tage nach unserer Abfahrt in Starnberg sitzen wir schon an Deck der Santa Maria und es ist als wäre keine Zeit vergangen. Ich freue mich hier zu sein, trotz der womöglich aufkommenden Seekrankheit. „Vielleicht sind wir ja tief in unseren Herzen doch Seemänner“, meint Stefan.
Nach sieben Tagen auf See erreichen wir Island. Wir segeln die Ostküste weiter hoch. Unser Ziel: Húsavík. Grund dafür ist die geographische Lage Húsavíks: Ganz im Norden Islands gelegen, ist es der perfekte Ausgangspunkt für einen schnellen Aufbruch gen Grönland. Als sich die Eiskarten allmählich von rot auf orange färben, segeln wir von dort am 28. Juli los.
Nach drei Tagen auf offener See vernehmen wir die ersten Konturen von Land, erst nur schemenhaft und dann immer deutlicher. Später lese ich in meinem Tagebuch:
„Es ist der 31. Juli. Wir segeln die letzten Meilen auf Ittoqqortoormiit (die einzige Siedlung im Scoresbysund, mit knapp 400 Einwohnern) zu. 30 Seemeilen vorher ebbt der Wind ab und Nebel tut sich auf. Die Wassertemperatur sinkt auf -1.5C. Das Deck wird eine einzige Rutschbahn und Reif setzt sich auf den Segeln ab. Erstes Eis tut sich auf, gleitet lautlos an uns vorbei. Das wie Öl dahinfließende Wasser gepaart mit dem Nebel, dem Eis das schemenhaft dahintreibt und die orange-glühende Sonne die versucht den Nebel zu durchstoßen erzeugt eine unglaublich mystische Stimmung. Eine Stimmung, die uns alle packt.“
Die Fahrt durch den Scoresbysund wird zu einem absoluten Traum. Wir durchfahren riesige Eisfelder und die Sonne scheint 24 Stunden am Stück, da wir uns auf der Nordhalbkugel und dazu noch über dem 70. Breitengrad befinden. Am ersten August legen wir am Ufer des Grundtvigskirken an.
Eine riesige Felsschuppe löst sich lautlos
Wir errichten unser Basecamp und machen uns einen Taktikplan. Morgen wollen wir mit dem Klettern beginnen. Der spektakulärste Wandteil des Grundvigskirken ist dessen Nordwand: Abweisend und überhängend. Genau das ist unser Ziel. Da wir vier Kletterer sind, beschließen wir uns aufzuteilen. Eine Seilschaft wird vorsteigen und die andere sorgt für den nötigen Nachschub an Material und ist somit als Bodenpersonal verbunden durch Funkkontakt, ständig in Rufbereitschaft, auch im Falle eines Unfalls. Im Tagebuch notiere ich:
„2. August. Wir frühstücken um 4 Uhr und laufen um 5 Uhr los. Zwei Stunden später stehen wir an der Wand. Alle sind direkt zutiefst beeindruckt von der Mächtigkeit dieser. Ich habe Stefan noch nie so aufgeregt erlebt wie heute. Dorf und Schlesi überlassen uns den Vortritt und somit docken wir an. Stefan steigt vor und bohrt den ersten Stand in 60m Höhe, fixiert das Fixseil. Ich mache das Haulbag fertig und steige mit den Steigklemmen hinterher. Während dem Nachsteigen knackt es in kurzen Abständen zwei bis dreimal direkt über uns. Ich schiebe es auf den Gletscher unter uns. Doch dann passiert es: Eine riesige Felsschuppe hat sich lautlos gelöst und rast wie ein Damoklesschwert auf uns zu. Die Anderen unten schreien. Ich beobachte die Schuppe in Zeitlupe, dann schlägt sie ganz knapp oberhalb von Stefan auf und ein Steinhagel bricht auf uns nieder. Ich ducke mich an die Wand und schütze meinen Nacken und Kopf mit meinen Händen. Stefan schreit, mich trifft ein kleiner Brocken am Oberschenkel, dann ist Stille. Als ich mich nach Stefan erkundige bekomme ich erst keine Antwort. Beim zweiten Mal rufen ist er wieder ansprechbar und sagt nur: “Abseilen, schnell!“
Zurück am Boden sitzt Stefan da, leichenblass, mit einem tiefen Schnitt am Handgelenk und einem Hämatom am Oberschenkel. Immer wieder sagt er: „I dacht, wir sind hii!“ Der Abstieg ins Basecamp wird die Hölle für ihn. Mir ist zum Lachen und Weinen zumute. In dem Moment als die Steinschuppe auf uns zugeflogen kam, war ich erstaunlicherweise ganz rational und habe die Situation sogar mit einer gewissen Gelassenheit wahrgenommen: Habe die Schuppe und ihren Flug solange wie möglich beobachtet und mich dann erst nach ihrem Aufprall weggeduckt. Das warten, ob dich ein Stein trifft, war dagegen die reinste Folter.
Unten im Basecamp grillt Wolf für uns, die Stimmung ist gedämpft, aber es ist trotzdem ein tiefgreifender Abend. Wir reden viel und alle sind sichtlich erleichtert, dass wir zu siebt am Tisch sitzen.“
Erst einige Tage später wird mir so richtig bewusst wie brenzlig die Situation war und das Stefan und ich in dieser Situation wirklich hätten sterben können.
Die Erstbegehung – „Suffer & Smile, boys don´t cry“
Es gibt zwei Aspekte, warum es mir Expeditionen so angetan haben. Zum einen ist es der Gedanke oder die Idee, etwas zu unternehmen was nur wenigen Menschen auf dieser Welt vorbehalten bleibt. Zum anderen ist es aber auch der extrem starke Teamgedanke, der bei solchen Aktionen entsteht – gemeinsam für ein Projekt zu kämpfen, durch dick und dünn.
Beeindruckend für mich war zu sehen wie wir als Team durch den Steinschlag noch näher zusammengerückt sind.
Dorf, Schlesi und ich unternehmen in den nächsten Tage weitere Versuche, um andere Wandteile auf der Nordseite des Berges „auszuchecken“. Müssen aber erkennen, dass die komplette Nordwand ein ziemlicher Bruchhaufen ist, die Gefahr eines weiteren Steinschlags ist zu riskant. Resigniert sitzen wir unten im Basecamp und diskutieren unsere Möglichkeiten. Einen anderen Berg suchen und besteigen? Nein, das kommt nicht in Frage. Ich will da hoch!
Wenn man unten im Basecamp sitzt blickt man direkt auf die Südwand des Grundtvigskirken, etwas geneigter als die Nordwand ist sie, aber genauso schön und spektakulär. Alle sind angetan von der Idee und so kommt es, dass wir uns schwer bepackt mit Material und Verpflegung für fünf Tage am 6. August auf den Weg machen, um der Südwand eine Erstbegehung abzuringen. Zustieg zu dieser ist ein langer Felsgrat, über welchen 1999 ein schwedisch-britisches Team den Berg bestiegen hat. Einen Tag brauchen wir für die ersten 1000 Höhenmeter, in sehr alpinem Gelände. Wir biwakieren vor der 600 Meter in die Höhe ragenden Südwand.
Am 7. August beginnen wir mit dem Klettern.
Unser Plan: Durchklettern bis zum Gipfel.
In meinem Tagebuch steht: „Schlesi übergibt mir das Zepter: Mit Bohrmaschine, Hammer, Schraubenschlüssel, Friends, Keilen und Hakenlaschen bewaffnet mache ich mich auf den Weg ins Neuland. Ich fühle mich wie ein überfüllt geschmückter Weihnachtsbaum. Mein Mund ist trocken und ich habe einen Kloß im Hals. Ich folge einer Rissspur für etwa 30 Meter und verlasse sie dann, um über eine plattige Stelle in eine Gufel zu gelangen. Ich bohre meinen allerersten Stand. Als ich die Anderen nachhole bin ich mächtig stolz. […] Um 23:50 Uhr stehen wir auf dem Gipfel, alle zusammen und gesund. Lange bleiben wir nicht, es ist kalt und wir haben noch eine lange Abseilerei vor uns. 24 Stunden waren wir auf den Beinen. Angekommen im Biwak schlafen wir benommen von der Anstrengung direkt ein. “
Als wir endlich das Basecamp erreichen, fällt die ganze Spannung von uns ab. Wir taufen unsere Route „Suffer & Smile, boys don´t cry“. Wir haben gelitten, aber noch mehr gelächelt. Ein Traum ist in Erfüllung gegangen.